Im August 2023 entgleiste ein Güterzug im Gotthard-Basistunnel – eines der wichtigsten Bahnprojekte Europas. Nun, über 1,5 Jahre später, liegt der Abschlussbericht der Schweizer Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) vor. Die Ergebnisse werfen ein deutliches Licht auf systemische Sicherheitsprobleme im europäischen Güterverkehr – insbesondere durch bestimmte Radsatztypen mit sogenannten LL-Bremssohlen (Low Friction - Low Noise Bremsen, also Bremsen mit geringer Reibung und wenig Lärm. Genauer gesagt handelt es sich dabei um Bremssohlen aus Verbundwerkstoffen, die an Güterwagen verwendet werden und die herkömmlichen Grauguss-Bremsklötze ersetzen).
Der Unfall verursachte Schäden in Höhe von 130 Millionen Franken und führte zu einer Jahressperre der Weströhre. Glücklicherweise kamen keine Menschen zu Schaden. Ursache war ein gebrochenes Rad am elften Wagen, das infolge feiner Ermüdungsrisse versagte – ein bekanntes Phänomen bei Güterwagen mit LL-Bremsen, wie der Sust-Bericht betont.
LL-Bremssohlen unter Verdacht
Laut Sust bestehen erhöhte Risiken bei Radsätzen mit LL-Bremssohlen – eine Bremsart, die eigentlich zur Lärmminderung eingeführt wurde. Doch diese Bremsen belasten die Radscheiben thermisch, was zu Materialermüdung führt. Bereits in mehreren europäischen Fällen kam es zu ähnlichen Vorfällen. Problematisch: Der vorgeschriebene Mindestdurchmesser der Räder wird häufig unterschritten – ein klarer Risikofaktor.
Sust fordert EU-weite Änderungen
Drei Hauptmaßnahmen empfiehlt die Sust auf europäischer Ebene:
Einheitliche Mindestdurchmesser für alle Radsatztypen, auch mit LL-Bremssohlen.
Modernisierung von Prüfmethoden und Wartungsintervallen, um Materialschäden frühzeitig zu erkennen.
Eine Studie zur thermischen Belastung durch LL-Bremssohlen.
Zusätzlich fordert die Sust von der Schweiz, Weichenverschlüsse sicherer zu gestalten und die technische Dokumentation bei SBB Cargo zu vereinheitlichen.
SBB warnt: Unfallrisiko im Güterverkehr zu hoch
Die SBB unterstützen die Empfehlungen ausdrücklich – und gehen weiter: In einer Mitteilung fordert das Unternehmen schnelle und verbindliche Umsetzungen, vor allem EU-weit. Aus ihrer Sicht ist das Unfallrisiko im internationalen Güterverkehr zu hoch. Die SBB selbst nutzen keine LL-Bremssohlen mehr und wollen ihre Kunden bis Ende des Jahres ebenfalls davon abbringen.
Zudem schlagen die SBB wirtschaftliche Anreize vor: Wageneigentümer sollen an Unfallschäden beteiligt werden, um mehr in Sicherheit und Instandhaltung zu investieren. Politische Vorstöße dazu sind derzeit im Schweizer Parlament anhängig.
Originalquelle (NZZ, 02.06.2025):
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